Donnerstag, 18. August 2016

Althochdeutsch oder Altsächsisch? questa oder quest?

Im Althochdeutschen ist in Gl. 3,249,50 (12./13. Jh., obd.) und Wien. Cod. 2400 (13. Jh., obd.) ein Wort questa f. in der Bedeutung 'Scham verhüllende Laubschürze' bezeugt, das zur Glossierung von lateinisch perizoma 'Gürtel' verwendet wird.

Früher bezeugt, nämlich im 11. Jh., ist das Wort in Gl. 1,318,11 und 2,495,36: Hier findet sich questa als Glossierung von perizomata. Beide Belege stammen aus der Handschrift Karlsruhe, St. Peter Perg. 87.

Hier tun sich nun zwei Probleme auf:
1. Es gibt bei der Handschrift Karlsruhe, St. Peter Perg. 87 die Schwierigkeit, dass es prinzipiell offen bleibt, ob die Glossen dem Althochdeutschen oder dem Altsächsischen zuzuordnen sind (vgl. dazu etwa die Angaben im Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, bearb. v. Rolf Bergmann und Stefanie Stricker, Berlin/New York 2005, Nr. 324). Diese Unentschiedenheit der Zuordnung spiegelt sich in folgenden Einordnungen wieder: Während beide Belege im Althochdeutschen Glossenwortschatz von Taylor Starck und John C. Wells, Heidelberg 1971-1990, S. 469 dem Althochdeutschen zugeordnet werden, werden sie bei Heinrich Tiefenbach, Altsächsisches Handwörterbuch, Berlin/New York 2010, S. 227 dem Altsächsischen zugeschlagen. Eine Zwischenposition nimmt Rudolf Schützeichel, Althochdeutscher und altsächsischer Glossenwortschatz, Tübingen 2004, Bd. 5, S. 428 ein: Er ordnet den Beleg Gl. 2,495,36 dem Althochdeutschen, den Beleg Gl. 1,318,11 dagegen dem Altsächsischen zu. Die Zuordnung kann offensichtlich nicht sicher vorgenommen werden.
2. Zu dieser Schwierigkeit kommt ebenfalls die unklare Stammklasseneinordnung. Die beiden Belege questa in Gl. 3,249,50 und Wien. Cod. 2400, die sicherlich im Nominativ Singular stehen, können sowohl als ō-Stamm als auch als n-Stamm eingeordnet werden. Die Eingrenzung auf den ō-Stamm bei Schützeichel, a.a.O. ist unbegründet (der n-Stamm scheint in Anbetracht des mittelhochdeutschen Fortsetzers queste sw.f. 'Büschel, Wedel von einem Baum, Laubbüschel, Federbüschel als Helmschmuck' sogar etwas näherliegend zu sein). Ein zusätzliche Problematik findet sich in den beiden Belegen questa in Gl. 1,318,11 und 2,495,36, die lat. perizomata, Akkusativ Plural, glossieren. questa lässt sich auf zwei Weisen interpretieren, je nachdem, ob es sich um eine formeninkongruente oder eine formenkongruente Glossierung handelt: Im ersten Fall kann questa als Nominativ Singular - so wie die anderen beiden Belege - ebenfalls als ō-Stamm oder als n-Stamm bestimmt werden. Im zweiten Fall ist questa eine Akkusativ-Plural-Form; diese kann sowohl als zu einem a-Stamm ahd./as. quest oder einem ō-Stamm questa gehören. Für ersteren Ansatz entscheidet sich Tiefenbach, a.a.O. (vielleicht weil sich im Mittelniederdeutschen lediglich quest m. 'Laubbüschel, Laubschürze, Zweigbüschel, Quast, Rute zum Gebrauch im Schwitzbad, breiter Maurerpinsel, Laubbesen, Reisigbesen, Strohwisch, ein Fischfanggerät, textiles Zierelement, herabhängende zusammengedrehte Schnüre oder Fransen, Troddel' findet), für letzteren Ansatz etwa Starck & Wells a.a.O. Wenig wahrscheinlich ist indessen das Verfahren bei Schützeichel a.a.O.: Er ordnet den Beleg Gl. 2,495,36 als a-Stamm, den Beleg Gl. 1,318,11 dagegen als ō-Stamm ein.

Im Althochdeutschen findet sich somit unzweifelhaft das Wort questa f., entweder ō- oder n-Stamm. Unklar ist folgendes: Gibt es im Althochdeutschen daneben noch eine Form quest m. a-Stamm? Ist das Wort (entweder in der Form questa f. ō-/n-Stamm oder quest m. a-Stamm) auch für das Altsächsische zu sichern?

Es wäre sinnvoll, wenn solche Tatbestände in den Wörterbüchern mit genau diesen Unsicherheiten angezeigt würden. Das Verfahren, dass jetzt in Wörterbüchern angewandt wird, suggeriert eine Sicherheit, die es wegen der Überlieferungslage (wenigstens solange es keine neuen Erkenntnisse/Fünde gibt) nicht geben kann. Ansonsten wird es etwa zu solchen Fehlern kommen, dass ein Benutzer aus den Wörterbüchern schließt, dass es sowohl althochdeutsch quest m. a-Stamm als auch altsächsisch quest m. a-Stamm gibt, was aus der Überlieferung selbst eben nicht abgeleitet werden kann; verheimlicht wird ihm dagegen in einigen Wörterbüchern, dass quest (egal ob althochdeutsch oder altsächsisch) auch immer questa sein könnte.